Viele Menschen haben gelernt, äußerlich ruhig zu wirken, während ihr sympathisches System eigentlich noch hochaktiv bleibt. Diese „versteckte Anspannung“ kann etwa in Konfliktsituationen vorkommen, wenn wir glauben, ein kühler Kopf wirke souverän. Tatsächlich steht der Körper dabei meist unter anhaltendem Stress – und das kann auf Dauer müde und unzufrieden machen.
Das autonome Nervensystem kurz erklärt
Es reguliert lebenswichtige Körperfunktionen wie Atmung, Herzschlag und Verdauung – ohne unser bewusstes Zutun. Ob wir uns entspannt fühlen oder auf „Alarm“ geschaltet sind, wird maßgeblich durch das Zusammenspiel seiner beiden Hauptbereiche bestimmt:
Sympathikus
- Häufig als „Kampf-oder-Flucht“-System bezeichnet
- Reagiert auf wahrgenommene Bedrohungen oder Stressoren, indem er Puls und Atemfrequenz erhöht und die Muskeln anspannt
- Ursprünglich dafür da, in Gefahrensituationen blitzschnell zu reagieren – Fight (kämpfen) oder Flight (flüchten)
Parasympathikus
- Wirkt dem Sympathikus entgegen und wird oft mit „Ruhe und Verdauung“ in Verbindung gebracht
- Senkt Puls und Atemfrequenz, entspannt die Muskulatur
- Ermöglicht ein Gefühl von Sicherheit und schafft die Basis für tiefe Wahrnehmung und Regeneration
Im Idealfall arbeiten beide Systeme reibungslos zusammen. Wir geraten nur kurz in die hochaktive Alarmphase (z. B. wenn eine tatsächliche Bedrohung auftaucht) und kehren anschließend wieder in eine ausgewogene Ruhe zurück. Auf diese Weise kann unser Organismus ausreichend regenerieren – und wir behalten Zugang zu unseren Gefühlen und Bedürfnissen.
Wenn Ruhe nur Fassade ist
Doch nicht jede äußerlich gezeigte Gelassenheit bedeutet, dass jemand innerlich tatsächlich im Parasympathikus-Modus angekommen ist. Oft meinen wir, wir seien „kontrolliert“ oder „professionell“, wenn wir unsere innere Unruhe überspielen. Dabei fühlt sich das Nervensystem noch im Alarmzustand – erkennbar etwa an:
- Gleichmäßigem, wenig variablem Herzschlag
- Unnatürlich flacher Atmung, die vorwiegend im Brustkorb stattfindet
In einem wirklich entspannten Zustand variiert der Herzschlag leicht und passt sich flexibel an Atmung und Bewegungen an. Dieses natürliche Auf und Ab spricht für eine bessere Regenerationsfähigkeit.
Wer ständig Ruhe vortäuscht, ohne sie wirklich zu empfinden, läuft Gefahr, sich langfristig zu erschöpfen. Schlafprobleme, Kopfschmerzen oder das Gefühl, „abgeschnitten“ von den eigenen Gefühlen zu sein, können die Folge sein. Und das erschwert es zusätzlich, frühzeitig auf emotionale Signale zu reagieren oder sie überhaupt wahrzunehmen.
Warum Stress den Zugang zu Emotionen blockiert
Fight-or-Flight-Modus und seine Tücken
Unter Dauerstress oder in belastenden Situationen wird der Sympathikus im Übermaß aktiviert. Unser Körper bereitet sich auf eine vermeintliche Bedrohung vor, selbst wenn der Auslöser nur ein voller Terminkalender oder ein Konflikt im Büro ist. Dadurch gerät der Körper in eine Angriff-oder-Flucht-Haltung: Wir sind angespannt, haben hohen Blutdruck und die Aufmerksamkeit verengt sich auf das scheinbar Gefährliche.
Auswirkung auf unsere Gefühle:
- Feine Signale von Körper und Seele gehen im Alarmzustand oft unter.
- Wir reagieren impulsiver, weil der Körper „überleben“ will, anstatt entspannt auf innere Regungen zu achten.
- Dauerhafte Anspannung kann zu innerer Unruhe, Schlafproblemen und körperlichen Verspannungen führen, was wiederum unsere emotionale Wahrnehmung weiter erschwert.
Side-Quest: Fight, Flight, Freeze, Fawn
Wenn von Stressreaktionen die Rede ist, sprechen viele Menschen vom „Vier-F-Modell“:
- Fight (Kampf) – Eindeutig sympathisch geprägt: Körper mobilisiert Kraft, Puls und Blutdruck steigen.
- Flight (Flucht) – Ebenfalls sympathisch: Weglaufen statt kämpfen, aber mit erhöhter Alarmbereitschaft.
- Freeze (Erstarren) – Mischzustand: Sympathikus ist zwar aktiv, aber ein Teil des Parasympathikus (insbesondere der dorsale Vagus) übernimmt eine „Bremse“. Ergebnis: hochgespannter Körper in Starre.
- Fawn (Bambi-Effekt) – Eine sozial taktische Strategie, um den Aggressor zu besänftigen, z. B. durch übertriebene Freundlichkeit. Meist eine Mischung aus Angst (Sympathikus) und der Suche nach sozialer Sicherheit.
Wichtig: Freeze und Fawn sind oft komplexe Kombinationen aus verschiedenen Anteilen unseres autonomen Nervensystems. Das macht sie schwieriger einzuordnen als reines „Kampf oder Flucht“. Die Zuordnung von Freeze und Fawn entspringen der Polyvagal-Theorie, und wird in der Fachwelt noch kontrovers diskutiert. Dennoch kann das Modell der polyvagal-Theorie hilfreich sein, um eigene Stressmuster besser zu erkennen.
Demnach ist sowohl die Fawn- als auch die Freeze-Reaktion ein Verhalten, das dem Parasympathicus innewohnt, aktiviert wird sie jedoch durch den Sympathicus.
Echte Erholung statt Scheinruhe
Echte Erholung und die Kapazität sich selbst zu reflektieren treten vor allem dann ein, wenn wir nicht in Alarm, Starre oder übertriebenem Anpassungsverhalten gefangen sind. Wir erleben dann eine innere Sicherheit, die Erholung und Selbst-Reflexion überhaupt erst möglich macht. Ausserdem ist sie die Grundlage, um authentisch und emphatisch soziale Kontakte zu erleben, die uns nähren und spiegeln.
Methoden der Selbstregulierung: Warum es keinen Quick Fix gibt
In den sozialen Medien sind derzeit viele Trendwörter zu finden: „Vagus-Nerv-Reset“, „Nervensystem-Hacks“ und andere vermeintliche Zaubertricks. Doch wer hofft, in 60 Sekunden sämtliche Stressmuster abzulegen, hat noch nicht verstanden. Das Nervensystem muss oft altes, gelerntes Verhalten loslassen, bevor es neue Reaktionsmuster annehmen kann. Dies ist ein Prozess – keine Sofortlösung. „Neuroplastizität” ist hier das einzige Zauberwort.
Dazu gibt es gesammelte Weisheit z.B. von Moshe Feldenkrais und seiner gleichnamigen Methodik (feldenkrais.de)
Feldenkrais: Neu wahrnehmen, anders bewegen
Was ist es? Eine körperorientierte Methode, bei der du dich mithilfe sehr langsamer, bewusster Bewegungen neu „organisierst“.
Warum hilfreich? Feldenkrais kann alte Spannungsschleifen lösen. Durch sanftes Erkunden ungewohnter Bewegungsabläufe wird das Nervensystem angeregt, alternativen zu festgefahrenen Mustern zu entwickeln.
Dann gibt es zb. die Arbeit von Peter Levine, Somatic Experiencing® (somatic-experiencing.de/)
Grundprinzip: Nach Peter Levine liegen unverarbeitete „Überlebensreflexe“ oft als eingefrorene Energie im Körper.
Ziel: In sicheren kleinen Schritten („Titrieren“) lernt der Körper, diese Restspannungen zu entladen – etwa über Zittern, Schütteln, Ein- und Auspendeln oder spürbares „Durchlaufen“ der Energie.
Ausserdem kann ich euch da Irene Lyon (irenelyon.com) noch wärmstens empfehlen. Sie hat sehr viele Ressourcen an kostenlosen Videos und Blogbeiträgen bereitgestellt. Ihre Arbeit ist etwas moderner, richtet sich eher an Selbstlerner:innen, während Feldenkrais und Somatic Experiencing etwas älter ist, und man Therapeuten findet, die in diesen Methoden ausgebildet sind.
Besonders bei schwerwiegenden Traumata, PTBS und anderen Krankheitsbildern sollte unbedingt mit psycho-therapeutischer Unterstützung gearbeitet werden, und keine dieser Empfehlungen hier ersetzen professionelle, medizinische Beratung und Therapie.
Ein „Quick Move”, aber kein Quick Fix: Verlängerte Ausatmung
Zu guter Letzt, gebe ich euch noch einen Quick Move mit, der aber auch auf keinen Fall als Quick Fix interpretiert werden sollte… man hört ja gerne, „atme mal tief ein” als Ratschlag… tatsächlich ist es aber wesentlich besser, tief auszuatmen. Das gibt dem Körper Zeit, mehr CO2 für den Gasaustausch bereit zu stellen, und bringt dann mit der nächsten regulären Einatmung mehr Sauerstoff fürs Gehirn.
Wenn wir einfach nur tief einatmen, provozieren wir eher eine Hyperventilation. Also wenn wir merken, dass die Atmung flach ist, die Verbindung zum Körper schwer fällt: bewusst extra tief ausatmen. Alles an Luft rauslassen, was geht, so langsam wie möglich. Das verlagert die Atmung auch gleichzeitig in den Bauch. Und wenn wir dann noch eine kleine Pause einlegen können, bevor wir der normalen Einatmung den Körper wieder überlassen, sind wir tatsächlich schon ein kleines bisschen entspannter. Die Einatmung fühlt sich natürlich entsprechend tiefer an, weil sie viel tiefer beginnt.
Das kann man so oft wiederholen, wie man mag und Zeit hat. Es bringt einen zurück in den Körper und die Atmung verlagert sich in den Bauch.